Dozentur in den USA: „Viel Freiheit von Anfang an“

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Dr. Daniel Schade an den Niagarafällen im US-Bundesstaat New York.

Der Politikwissenschaftler Dr. Daniel Schade hat nach Studien- und Forschungsaufenthalten in Deutschland, Frankreich und Großbritannien den Sprung über den Atlantik gewagt: Er ging mit Unterstützung durch das DAAD-Programm „German Studies Dozenturen in Nordamerika“, welches Teil des Langzeitdozenturenprogramms ist, an die Cornell University in Neuengland, eine der traditionsreichsten Hochschulen der USA. Was ihn fasziniert, sind die hohe Autonomie, die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hier genießen, aber auch die gesellschaftlichen Widersprüche, die dem europäischen Gast frappant ins Auge fallen. 

Ahornalleen, schmucke Holzhäuser, gepflegte Vorgärten – die Kleinstadt Ithaca im US-Bundestaat New York präsentiert sich als Neuengland-Idyll, wie man es aus unzähligen TV-Serien und Hollywoodfilmen kennt. Doch ist das auch die Realität? „Ja und nein“, sagt der Politikwissenschaftler Dr. Daniel Schade, der 2020 nach Ithaca ging, um an der renommierten Cornell University Bachelor-Studierende zu unterrichten. „Die Stadt wirkt tatsächlich wie aus dem Bilderbuch, sie zählt zu den liberalsten der USA, und auch die Landschaft mit lauter Seen und Wasserfällen ist reizvoll.“ Doch die Wirklichkeit ende eben nicht an der Stadtgrenze. „Abgesehen von Städtchen wie Ithaca und natürlich der Weltmetropole New York City ist der Staat vor allem landwirtschaftlich geprägt, sehr konservativ – und keineswegs wohlhabend“, so Schade. „Denn im Norden, an den Großen Seen, beginnt der ,Rust Belt‘, die Zone einst blühender Großstädte, die mit dem Niedergang der Industrie zu Armenhäusern der USA herabgesunken sind – mit allen sozialen Konsequenzen.“ 

Das ist das Spannungsfeld, in dem Daniel Schade in seine vom DAAD unterstützte Langzeitdozentur als Assistant Professor startete – und es war ein Anfang mit Hindernissen. „Ich habe praktisch mit Beginn der Pandemie hier angefangen, und im gesamten ersten Jahr lief der Lehrbetrieb komplett online“, sagt der 35-Jährige. Immerhin kam ihm zugute, dass die USA kein Neuland für ihn waren: Als Schüler ging Schade zum Austausch nach Kalifornien, und während seines Bachelor-Studiums, das er in Paris absolvierte, konnte er ein Jahr an der Harvard University verbringen. „Für den Master bin ich nach Großbritannien gegangen, weil ich wusste, dass man dort mehr Freiheiten hat als im recht verschulten französischen System. Das hat mir so gefallen, dass ich in London auch promoviert habe.“ Danach kehrte er „als Brexit-Flüchtling“ nach Deutschland zurück, so der Wissenschaftler – und meint das nur halb im Spaß, denn: „Was soll man als Spezialist für europäische Außenpolitik im Vereinigten Königreich erforschen, wenn das Land gerade aus der EU ausgetreten ist?“

Dozentur in den USA: „Viel Freiheit von Anfang an“

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Neuengland-Idyll in Ithaca, New York: Blick auf den Campus der Cornell University.

Viel Freiheit in Lehre und Forschung
Schades Dozentur an der Cornell University war als Position eines Assistant Professor ausgewiesen. Das ist im amerikanischen Hochschulsystem die Einstiegsstufe nach ein paar Jahren Post-Doc-Forschung. „Doch schon auf dieser untersten Ebene der akademischen Karriere ist man an einer Uni wie Cornell im Grunde seine eigene Einheit und kann die Lehr- und Forschungsinhalte unabhängig gestalten. Natürlich wurde mir nahegelegt, Seminare zur europäischen Politik zu geben. Aber generell arbeitet man sehr autonom, anders als im deutschen System mit den Lehrstühlen und den ihnen zugeordneten wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.“ Auch organisatorisch unterscheide sich der Universitätsbetrieb fundamental von dem in Deutschland. „Das liegt in erster Linie daran, dass das Administrative hier von Leuten erledigt wird, die aus der Privatwirtschaft kommen oder gar von anderen Hochschulen abgeworben werden. Sie betreiben dann zum Beispiel das Fundraising oder werben Drittmittel ein.“ Diese Gewaltenteilung habe zwar zur Folge, dass das akademische Personal etwa auf den strategischen Kurs einer Universität weniger Einfluss nehme, als es an deutschen Hochschulen der Fall ist. „Dafür genießt es deutlich mehr Entscheidungsfreiheit von Anfang an – und das hat nur Vorteile“, findet der Politologe.

Fordernde Studierende
Schade konzipierte in Cornell zwei Seminare über deutsche und europäische Politik. „Das Bachelor-Studium ist in den USA so ausgelegt, dass man in den ersten Jahren zunächst eine Art Studium generale verfolgt. Es kommen daher keineswegs nur Studierende der Politologie, sondern auch angehende Chirurginnen oder künftige Physiker“, beschreibt Schade die Klientel. Studierende aus Europa zählten ebenso dazu wie viele Chinesinnen und Chinesen, die an den amerikanischen Elite-Unis in großer Zahl studieren. „Doch der Großteil der Teilnehmenden sind naturgemäß US-Amerikanerinnen und -Amerikaner. Darunter viele, die einfach mehr über dieses Deutschland wissen wollen, aus dem ihre Großeltern stammen oder wo ihr Vater als Soldat in Ramstein stationiert war.“ 

Aber nicht nur die ganz unterschiedlichen Interessen der Studierenden, auch das Verhältnis zu ihnen selbst habe ihn vor neue Anforderungen gestellt, so Schade. „Die Beteiligung in den Seminaren ist ausgesprochen rege. Das hängt sicher damit zusammen, dass die, die an einer Universität wie Cornell studieren, hart gesiebt wurden: Entweder haben sie ein Stipendium, das heißt, sie mussten sich ihren Platz wirklich verdienen. Oder ihre Eltern zahlen jährlich 50.000 Dollar oder noch mehr für die Studiengebühren. All das sorgt natürlich für einen gewissen Druck. Die Studierenden erwarten daher auch ein bisschen mehr von den Kursen – und für sich selbst, dass sie sehr gute Noten bekommen. Wenn man statt eines A nur ein A minus vergibt, muss man durchaus damit rechnen, dass die Studierenden nachfragen und über die Note diskutieren möchten. Ihr Anspruch, zu den Besten zu zählen, auch wenn es objektiv vielleicht nicht so ist – das ist eins der Phänomene, auf die man sich einstellen muss.“ 

Polarisierung im Alltag nimmt zu
Angesichts des hohen Engagements der Studierenden ist es fast erstaunlich, dass die Verwerfungen, die aktuell die Welt durchrütteln, nach Schades Beobachtung im akademischen Betrieb nur geringen Widerhall finden. Ausnahmen würden eher die Regel bestätigen: „Krieg in Europa – natürlich, das interessiert viele. Der Kurs über EU-Politik, den ich bis Ende 2022 gegeben habe, war doppelt so voll wie der im vorletzten Jahr. Aber zum Beispiel die inneren Spannungen in den USA oder die Tatsache, dass sich die Republikanische Partei mit Ungarns Präsident Viktor Orbán anfreundet, weil sich auf diese Weise – provokant gesagt – studieren lässt, wie man einen Rechtsstaat aushöhlt: Das habe ich in meinen Seminaren zwar angesprochen, doch Gegenreden der Studierenden oder gar Konflikte gibt es kaum.“ Das könne aber daran liegen, dass die Teilnehmenden eine gesellschaftlich homogene Gruppe bildeten – wie es generell für diese Universität, ihre Studierenden, das Personal und auch die Unterstützerinnen und Unterstützer der Traditionshochschule gelte.

Fasziniert von den Kontrasten
Doch Daniel Schade wäre kein Wissenschaftler, wenn er nicht den gesellschaftlichen Polarisierungen, den Rissen in den Fassaden nachspüren würde. Denn die gebe es natürlich auch in Ithaca. „Zwar scheint die Stadt kaum Konfliktpotenziale zu kennen. Sowohl das idyllische Stadtbild als auch die Art und Weise, wie das Gemeinwesen bis hin zu einem vorbildlichen ÖPNV funktioniert, erwecken den Eindruck eines Bilderbuch-Amerikas. Und das ist in erster Linie auf die Universität und den Wohlstand, den sie mit sich bringt, zurückzuführen“, so der Politologe. „Auf der anderen Seite offenbart der Alltag große Kontraste. So tendieren Menschen, die sich in irgendeiner Form politisch engagieren, mehr und mehr zu Extrempositionen. Ein Beispiel: Entweder lehnen sie das Autofahren, erst recht den Besitz eines Wagens, vollkommen ab – oder sie fahren das größte Auto, das man je gesehen hat. Und diese Polarisierung nimmt in vielen Lebensbereichen zu – die Menschen wählen immer seltener Mittelwege.“ 

Im Gespräch mit Daniel Schade spürt man bei jedem seiner Sätze, mit welcher Faszination – gepaart mit der Analysefähigkeit des Politologen – er sein amerikanisches Umfeld betrachtet. Sein „bisheriges Umfeld“, muss man korrekterweise sagen – denn Schade hat sein Engagement in Cornell zum Jahreswechsel beendet, um als Assistenzprofessor an die Universität Leiden in den Niederlanden zu wechseln. Wie blickt er auf seine drei Jahre in den USA zurück, mit welcher Erkenntnis verlässt er das Land? „Mit dem Abstand etwa zu Frankreich und Deutschland ist mir hier klar geworden, wie gut europäische Gesellschaften doch in vielen Dingen funktionieren“, sagt er. „Das zeigt, dass wir uns angesichts vieler Debatten, die in Europa geführt werden, noch glücklich schätzen können, wenn man vergleicht, was zum Teil in den USA passiert.“

Frank Giese (23. Januar 2023)

Daniel Schade über Neuengland und Langzeitdozenturen

Das Besondere an den USA …
... sind die Kontraste, die einem überall ins Auge fallen.

Wer nach Neuengland reist ...,
... sollte dies unbedingt im Herbst, dem sogenannten „Indian Summer“, tun.

Über eine Langzeitdozentur sollten alle nachdenken, …
... die Universität einmal in einem anderen Kontext erleben möchten.