Auf dem Weg zu europaweiten Regeln für Microcredentials

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Microcredentials flexibilisieren Bildungswege, stärken das Prinzip des lebenslangen Lernens und erreichen neue Zielgruppen im In- und Ausland.

Die Diskussion zum Einsatz von Microcredentials an Hochschulen hat zuletzt beständig an Dynamik gewonnen. Die EU-Kommission möchte der Debatte mit ihrer aktuellen Ratsempfehlung zusätzliche Impulse geben und ein regulatorisches Fundament schaffen. Umfragen des DAAD belegen, dass sich die deutschen Hochschulen mit diesen Zertifikaten für modulare Lernangebote bereits beschäftigen. Erste Erfahrungen zeigen: Die Resonanz ist positiv, der Klärungsbedarf jedoch noch groß.

Flexibel, modular, international und in der Regel kurz – so sollen Kurse und Schulungen sein, mit denen sich Erwachsene Kompetenzen aneignen können, die sie für ihre persönliche und berufliche Entwicklung brauchen, und für die Hochschulen sogenannte Microcredentials als Lernzertifikate vergeben können. Die Microcredentials könnten das nächste große Ding auf dem Bildungsmarkt sein. „Es ist wichtig, dass jeder Mensch unabhängig von seiner persönlichen Situation flexible, modulare und leicht zugängliche Lern- und Weiterbildungsmöglichkeiten nutzen kann“, sagte die EU-Bildungskommissarin Mariya Gabriel im Dezember, als die EU-Kommission Vorschläge für die anstehenden Empfehlungen des EU-Rats zu Weiterbildungsangeboten präsentierte. Ein zentraler Ansatz, der in Brüssel diskutiert wird, sind eben die Microcredentials. Noch sind viele Fragen offen: Nach welchen Maßstäben müssen sie definiert werden? Welchen Qualitätsstandards müssen sie genügen? Nach welchen Prinzipien werden sie entwickelt? Die EU-Kommission will für die Zertifikate europaweit ein gemeinsames Fundament schaffen, um so zum einen bei Lernenden und Berufstätigen die Akzeptanz zu fördern und zum anderen die Qualität abzusichern. „Der europäische Ansatz für Microcredentials wird die Anerkennung und die Validierung dieser Lernerfahrungen erleichtern. Er wird die Rolle der Hochschulen und Berufsbildungseinrichtungen bei der Verwirklichung des lebenslangen Lernens in der EU stärken und ihnen ermöglichen, sich für ein breiteres, vielfältigeres Spektrum von Lernenden zu öffnen“, sagt Mariya Gabriel. 

Mittlerweile ein wichtiges Thema an vielen Hochschulen
An Deutschlands Hochschulen ist die Debatte inzwischen in vollem Gang. Das belegt eine Umfrage, die die Nationale Agentur (NA) für EU-Hochschulzusammenarbeit des DAAD im März präsentierte. Demnach bieten von den 155 Hochschulen, die sich an der Umfrage beteiligten, bereits 20 Prozent Microcredentials an, weitere 8,4 Prozent planen eine Einführung und immerhin 15,5 Prozent bezeichnen sie als ein wesentliches Diskussionsthema. „Dass sich bereits deutlich mehr als 40 Prozent der Hochschulen mit dem Thema befasst haben oder Microcredentials umsetzen, ist sehr bemerkenswert, denn noch stehen wir am Anfang eines Prozesses“, sagt David Akrami Flores, Leiter des DAAD-Referats „Erasmus+ Leitaktion 3: Politikunterstützung“. Aus Sicht der Hochschulen sollten die Microcredentials vor allem in der wissenschaftlichen Weiterbildung, beim lebenslangen Lernen und in der Internationalisierung zum Einsatz kommen. Auch für David Akrami Flores besteht Klärungsbedarf, zum Beispiel bei der Frage nach der Qualitätssicherung und sektorenübergreifenden Anerkennung. Denn nicht nur Hochschulen und Bildungsträger, sondern auch Wirtschaftsunternehmen wie Google, Microsoft oder Ernst & Young haben derartige Kurse schon längst für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Angebot. Dass sich Brüssel deswegen um eine einheitliche Regelung kümmert, halten nicht nur der DAAD-Referatsleiter, sondern auch die meisten Hochschulen für sinnvoll: Fast 60 Prozent der Bildungsinstitutionen plädierten in der DAAD-Umfrage insbesondere dafür, eine gemeinsame europäische Definition und Standardelemente für die Beschreibung der Microcredentials festzulegen. Auch außerhalb Europas wird das Thema diskutiert. Der DAAD lädt deswegen für den 23. Juni 2022 zu einem Seminar ein, in dem über die globale Perspektive der Microcredentials diskutiert werden soll.

Auf dem Weg zu europaweiten Regeln für Microcredentials

DAAD/Susanne Reich

David Akrami Flores leitet im DAAD das Referat „Erasmus+ Leitaktion 3: Politikunterstützung“.

Hohe Priorität bei den Europäischen Hochschulen
In Europa gelten die von der EU-Kommission geförderten Europäischen Hochschulen als Treiber für die Entwicklung von Microcredentials. In den Allianzen haben sich Hochschulen quer durch Europa zusammengetan, um die Stärken und die Vielfalt europäischer Lehre und Forschung in neuen Strukturen zu bündeln und die europäische Identität zu stärken. Eine zweite DAAD-Umfrage unter deutschen Hochschulen, die bereits Partner einer Europäischen Hochschule sind oder eine Beteiligung planen, ergab ebenfalls eine klare Tendenz: 22 von 34 der befragten Institutionen planen Microcredentials einzuführen, bei weiteren acht sind sie bereits im Einsatz – vor allem in der Weiterbildung und in den grundständigen Studiengängen. „Für die Hochschulen in den europäischen Allianzen haben die Microcredentials eine sehr hohe Priorität, weil sie bei deren Einführung eine Voreiterrolle einnehmen wollen und sollen“, sagt Birgit Siebe-Herbig, die beim DAAD das Referat „Forschung und Internationalisierung, Hochschulnetzwerke“ leitet. Eine Erklärung für diesen Zuspruch: „Viele Hochschulen haben während der Coronapandemie gemerkt, dass Microcredentials sich sehr gut für ein Online- oder Blended-Learning-Format von Kursen und Schulungen eignen“, sagt Birgit Siebe-Herbig. Mit Microcredentials könne man Bildungswege flexibilisieren, das lebenslange Lernen und die internationale Mobilität fördern sowie neue Zielgruppen sowohl im In- als auch im Ausland erreichen.

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DAAD

Birgit Siebe-Herbig ist die Leiterin des DAAD-Referats „Forschung und Internationalisierung, Hochschulnetzwerke“.

Positive Resonanz an der TU Hamburg
Die Technische Universität Hamburg (TU Hamburg) ist als Mitglied der Europäischen Hochschulallianz „European Consortium of Innovative Universities“ (ECIU) schon dabei, Microcredentials zu entwickeln. Das Konzept: „Die ECIU University bietet sogenannte Challenges an, also gesellschaftlich relevante Herausforderungen, die gemeinsam von interdisziplinären interkulturellen Gruppen aus Lernenden, Lehrenden, Forschenden und Stakeholdern der Gesellschaft entwickelt und gelöst werden“, erklärt Nicole Frei, ECIU-Projektkoordinatorin an der TU Hamburg. Um diese Aufgaben zu lösen, braucht es bestimmte Kompetenzen, wie spezielles Fachwissen, Management-Know-how oder Sprachkenntnisse, die man sich in Mikromodulen aneignen kann. Die Leistungsnachweise werden durch die ECIU University als Microcredentials zertifiziert. 86 Challenges und 138 Mikromodule hat die ECIU University bereits im Angebot. Dabei geht es beispielsweise um den Aufbau eines klimaneutralen Campus, Projekte zur Kreislaufwirtschaft oder die Entwicklung von Businessmodellen im Gesundheitssektor. Die Resonanz unter den Studierenden fällt an der TU Hamburg positiv aus, wie Nicole Frei berichtet: „Den Ansatz, sich beim Lernen an realen gesellschaftlichen Herausforderungen und nicht an einem vorgegebenen Lernplan zu orientieren, finden viele gut“, sagt sie. Allerdings müsse noch bei manchen Allianz-Mitgliedern geregelt werden, ob und wie die Microcredentials auf das Studium angerechnet werden können. Eine freiwillige Teilnahme scheitere oft daran, dass den Studierenden angesichts eng getakteter Stundenpläne die Zeit fehle. An der TU Hamburg, sagt Frei, gebe es aber bereits Möglichkeiten, sich die aus den Challenges erworbenen ECTS anrechnen zu lassen.

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TH Hamburg

Nicole Frei ist Projektkoordinatorin für die Europäische Hochschulallianz „European Consortium of Innovative Universities“ (ECIU) an der TU Hamburg.

Wie es nun auf europäischer Ebene mit den Microcredentials weitergeht, wird sich zeigen. Als Nächstes ist der EU-Rat gefordert: Er muss über die Ratsempfehlung entscheiden. Die zeitliche Vorgabe ist schon mal gesetzt: Bis zur Bologna-Ministerkonferenz im Jahr 2024 soll klar sein, wie die Microcredentials im Europäischen Hochschulraum konkret aussehen sollen.

Benjamin Haerdle (28. April 2022)