„Wir wollen zum Wiederaufbau des ukrainischen Hochschulsystems beitragen“

DAAD-Praesident Prof. J. Mukherjee (c) Jonas Ratermann

DAAD-Präsident Prof. Dr. Joybrato Mukherjee: „Wir sehen einen starken Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen.“

Ein Jahr nach dem Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine spricht DAAD-Präsident Professor Joybrato Mukherjee über anhaltende Unterstützung und Solidarität für die Ukraine, das Verhältnis zu Russland und die Zukunftsperspektiven einer Welt in Krisenzeiten.

Herr Professor Mukherjee, vor einem Jahr hat der russische Angriff auf die Ukraine viele vermeintliche Sicherheiten hinweggefegt. Wie blicken Sie auf die aktuelle Situation?
Schon drei Tage nach Beginn des russischen Angriffs sprach Bundeskanzler Scholz von einer „Zeitenwende“ – und wir sehen heute, ein Jahr später, wie richtig dieser Begriff gewählt war. Tatsächlich sind vermeintliche Gewissheiten fundamental in Frage gestellt, und mit jedem Tag, den dieser Krieg andauert, wird nur eins sicherer: dass es eine Rückkehr zum Status quo ante nicht geben wird. Wir sehen in der Ukraine unermessliches Leid, unermessliche Zerstörung, aber auch einen starken Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen, nicht zuzulassen, dass ein souveräner Staat einfach so verschwindet. Infrastruktur wurde in erheblichem Maß zerstört; es ist schwierig, an Schulen und Hochschulen Unterricht aufrechtzuerhalten. Umso dringender ist das Bedürfnis nach Unterstützung, nach Kooperation, unter anderem mit deutschen Hochschulen.

Wenn Sie zurückschauen auf den 24. Februar 2022, den Tag des Angriffs: Wie verliefen die ersten Stunden und Tage danach im DAAD?
Durch das Team unseres Informationszentrums Kiew haben wir am 24. Februar 2022 mit als Erste im akademischen Bereich von dem Angriff erfahren. Für uns hatte es zunächst oberste Priorität, sicherzustellen, dass unsere Ortskräfte sicher nach Deutschland ausreisen konnten. Dort haben sie mit großem Engagement die Nationale Akademische Kontaktstelle Ukraine aufgebaut. Alle unsere Lektorinnen und Lektoren sowie Stipendiatinnen und Stipendiaten hatten die Ukraine bereits vor Kriegsausbruch verlassen können. Schon wenige Stunden nach Kriegsbeginn haben wir die Mailadresse ukraine@daad.de als Kontaktpunkt für Informations- und Hilfesuchende eingerichtet. Und wir sind natürlich in die längerfristige Arbeit eingestiegen, Förderbedarfe zu erkennen und mit den geldgebenden Ministerien zu sprechen, sodass wir mit passenden Programmen auf die dramatische Situation reagieren konnten und können. Als unmittelbare Reaktion auf den Angriff haben wir zudem, in enger Abstimmung mit den deutschen Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen, die institutionellen Beziehungen zu Russland eingestellt.

Sie haben den Aufbau der Nationalen Akademischen Kontaktstelle Ukraine angesprochen. Was genau ist deren Funktion?
Die Kontaktstelle bietet Ukrainerinnen und Ukrainern, die in Deutschland studieren oder forschen wollen, umfassende Informationen und bündelt die Unterstützungsangebote deutscher Hochschulen. Bis zum heutigen Tag sind mehr als 200 verschiedene Angebote – von Hochschulen und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, aber auch von Stiftungen – zusammengekommen. Das Team des Informationszentrums Kiew berät nun über die Kontaktstelle geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer sowie, in Fortsetzung der Arbeit des Informationszentrums, nach wie vor auch Studieninteressierte aus der Ukraine. In Kooperation mit dem DAAD-Kompetenzzentrum Internationale Wissenschaftskooperationen (KIWi) beantwortet die Kontaktstelle zugleich alle Fragen der deutschen Hochschulen zum Thema.

Welche Unterstützung konnte und kann der DAAD darüber hinaus anbieten, sowohl für ukrainische Hochschulen als auch für Studierende sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler?
Mit Mitteln des Auswärtigen Amts haben wir das Stipendienprogramm Zukunft Ukraine für Geflüchtete aus der Ukraine an deutschen Hochschulen aufgelegt. Neben der Vergabe von Vollstipendien zum Erreichen eines Abschlusses beinhaltet es auch Begleit- und Betreuungsangebote der Hochschulen. Das Programm sieht darüber hinaus eine Rückkehroption vor, damit das Studium gegebenenfalls an einer ukrainischen Hochschule fortgeführt werden kann. Zugleich haben wir in bestehenden Programmen flexibel reagiert und beispielsweise Stipendien verlängert und Quoten für ukrainische Studierende in etablierten Stipendienprogrammen erhöht. Durch Mittel des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) konnten wir unsere seit 2016 bestehenden Programme für Geflüchtete sowohl für Ukrainerinnen und Ukrainer als auch für Studierende aus Drittstaaten, die aufgrund des Krieges nach Deutschland geflohen sind, öffnen und sie zum Beispiel im Rahmen des Programmes Integra in Sprach- und Vorbereitungskurse aufnehmen. Mit dem Programm Ukraine digital: Studienerfolg in Krisenzeiten sichern fördert der DAAD, finanziert durch das BMBF, zudem Kooperationen deutscher Hochschulen mit ukrainischen Partnerinstitutionen, sodass diese ihren Lehrbetrieb digital fortführen können. Dies ist vor allem im Hinblick auf die Zukunft des ukrainischen Hochschulsystems ein entscheidender Beitrag zur Stabilisierung der Lage, soweit das unter den derzeitigen Bedingungen möglich ist.

Doppelinterview Mukherjee und Karliczek Europäische Hochschulen

Auch mit Blick auf Ihr Amt als Präsident der Justus-Liebig-Universität Gießen: Was bedeutet die Aufnahme ukrainischer Studierender für die deutschen Hochschulen – und was können diese für die ukrainische Hochschullandschaft erreichen?
Die deutschen Hochschulen haben bereits 2015 bewiesen, dass sie nicht nur größere Zahlen von Geflüchteten aufnehmen, sondern diesen auch eine Perspektive bieten können. Das Hilfsangebot reicht von den genannten Integra-Kursen bis zu unkomplizierten Förderungen ukrainischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Rahmen des Möglichen; auch in Zusammenarbeit mit Partnern wie Stiftungen haben die Hochschulen zahlreiche Angebote entwickelt. Und wie der DAAD richten auch die deutschen Hochschulen den Blick bereits in die Zukunft und bauen die Kooperationen mit ukrainischen Universitäten aus. Zahlreiche deutsche Hochschulen stärken gemeinsam mit ihren ukrainischen Partnern die Digitalisierung und erweitern somit die Möglichkeiten für ein Studium in der Ukraine. Um nur ein Beispiel zu nennen: Gefördert vom DAAD bauen die BTU Cottbus-Senftenberg, die TU Berlin, die TU Kaiserslautern und die TH Lübeck gemeinsam mit Universitäten in Czernowitz, Kiew, Lwiw, Odessa und Poltawa eine digitale Lernplattform auf. Mit ihr werden ganz konkrete Inhalte zum Wiederaufbau ukrainischer Städte und zur Stadtentwicklung vermittelt.

Aktuell scheint ein Wiederaufbau des ukrainischen Hochschulsystems in Friedenszeiten noch weit entfernt. Wie kann der DAAD dazu beitragen?
Der Weg der Ukraine in die Europäische Union führt auch über das Bildungssystem. Es ist dringend notwendig, dass wir so weit wie möglich dazu beitragen, dass das ukrainische Hochschulsystem weiter funktioniert und schnellstmöglich wiederaufgebaut wird – sowohl infrastrukturell als auch mit Blick auf die Möglichkeiten der internationalen Kooperation in Lehre und Forschung. Hierzu kann und wird der DAAD der Politik entsprechende mittel- und langfristige Programmvorschläge machen. Letztlich brauchen wir einen Aktionsplan, der mindestens den Zeitraum bis 2030 umfasst.

Wie ist das aktuelle Verhältnis des DAAD zu Russland?
Nicht nur der DAAD, sondern auch die deutschen Hochschulen und weitere Wissenschaftseinrichtungen haben unmittelbar mit Beginn des russischen Angriffs die Beziehungen zu russischen Institutionen auf Eis gelegt. Dabei bleiben wir, solange die derzeitige Situation anhält. Es kann angesichts der aktuellen Lage keine institutionelle Zusammenarbeit geben. Für die Mobilität russischer Studierender und Forschender nach Deutschland sind sowohl der DAAD als auch die deutschen Hochschulen nach wie vor offen, und wir beobachten, dass das Interesse ungebrochen ist. Die Außenstelle des DAAD und das Deutsche Wissenschafts- und Innovationshaus in Moskau (DWIH) bleiben geöffnet, wenn auch Teile der Aktivitäten wie größere Veranstaltungen ausbleiben müssen. Aber sie sind wichtige Ankerpunkte, um auch für eine Zeit des Friedens mögliche Anknüpfungspunkte im Blick zu behalten – und globale Herausforderungen wie den Klimawandel wieder gemeinsam angehen zu können.

Im Juli 2022 hat der DAAD das Positionspapier „Außenwissenschaftspolitik für eine multipolare Welt“ veröffentlicht. Welche Lösungsansätze kann die Wissenschaft angesichts von Krieg und Konflikten bieten?
Wissenschaftliche internationale Beziehungen sind fester Teil der außenpolitischen Beziehungen eines Landes. Wie eng beide Sphären miteinander verbunden sind, hat uns vor dem russischen Angriff auf die Ukraine bereits die Coronapandemie gezeigt. Wissenschaft leistet in internationaler Zusammenarbeit unverzichtbare Beiträge zur Lösung globaler Herausforderungen und bietet somit große Chancen – und sie trägt zugleich eine enorme Verantwortung. Deshalb muss die Wissenschaft mit Blick auf ihre internationalen Kooperationen wertegeleitet und verantwortungsorientiert agieren – und darf dabei weder ihre eigenen Interessen noch mögliche Risiken nicht aus dem Auge verlieren. Wertegeleitete Außenwissenschaftspolitik kann durch ihre klare Positionierung Verständigung ermöglichen und Gesprächskanäle offenhalten. Das ist die Basis, um auch in herausfordernden Kontexten zur Stabilität internationaler Beziehungen beizutragen. Wir machen in unserem Positionspapier deutlich, dass die Wissenschaft elementar ist für die erfolgreiche Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft auf diesem Planeten.

Interview: Johannes Göbel (23. Februar 2023)

Verwandte Themen