Von Mozart bis Dutschke: Erstes Jahrbuch der Zentren für Deutschland- und Europastudien

Privat

Dr. Georg Krawietz, Leiter des DAAD-Referats „Projektförderung deutsche Sprache und Forschungsmobilität“.

Im Dezember 2022 ist erstmals ein Jahrbuch der Zentren für Deutschland- und Europastudien (ZDES) erschienen. Dr. Georg Krawietz, Leiter des Referats „Projektförderung deutsche Sprache und Forschungsmobilität“ im DAAD, im Interview über Ziele, Herausforderungen und Erfolge der Zentren.

Wir schreiben das Jahr 1990, der eiserne Vorhang ist gefallen, der Kalte Krieg zu Ende. Im wiedervereinigten Deutschland regiert Helmut Kohl, in den USA George Bush senior. An den renommierten US-amerikanischen Universitäten Berkeley, Harvard und Georgetown werden die ersten Zentren für Deutschland- und Europastudien (ZDES) gegründet. Mit ihnen will die Bundesregierung die deutsch-amerikanischen Beziehungen stärken. Es ist ein Erfolgskonzept: Heute fördert der DAAD aus Mitteln des Auswärtigen Amts 20 ZDES auf drei Kontinenten – von Brasilien über Israel bis China. 

Die Zentren arbeiten interdisziplinär und bilden Expertinnen und Experten für Deutschland und Europa aus. Neben Forschung und Lehre sowie der Vergabe von Stipendien für begabte Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler informieren sie die Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit in den jeweiligen Ländern über Europa und Deutschland. Das im Dezember 2022 erstmalig erschienene Jahrbuch gibt Einblicke in die Forschungsarbeit der ZDES. Dr. Georg Krawietz erklärt, warum sich ein Blick in die Publikation lohnt.

Herr Dr. Krawietz, welche Aufgaben haben die Zentren für Deutschland- und Europastudien? 
Die ZDES sind in Staaten verortet, die kulturell, politisch und wirtschaftlich enge Bindungen zu Deutschland haben und daher für uns besonders wichtig sind. Dies gilt etwa für unsere Nachbarn Frankreich, Großbritannien und Polen oder die USA, China und Brasilien. An den jeweiligen ZDES wird zu deutschland- und europaspezifischen Themen geforscht und eine neue Generation von Expertinnen und Experten in diesem Themenfeld ausgebildet. Dazu bieten die Zentren Master- und Promotionsstudiengänge an. In ihren Regionen sollen die ZDES den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs über Deutschland und Europa mitprägen. 

Was bedeutet das konkret?
Die Absolventinnen und Absolventen der ZDES sind später etwa an Hochschulen, in der Politik, der Wirtschaft oder in NGOs tätig und tragen dazu bei, dass Deutschland und Europa im Diskurs der jeweiligen Länder einen Platz einnehmen. Die Zentren in Japan oder Südkorea etwa werden häufig von der dortigen Politik angesprochen, wenn es um Fragen zu Deutschland und Europa geht. Mit Veranstaltungen wie Vorträgen oder Lesungen informieren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der ZDES auch eine breitere Öffentlichkeit vor Ort. 

Von Mozart bis Dutschke: Erstes Jahrbuch der Zentren für Deutschland- und Europastudien

DAAD 

Weltweites Netzwerk: Standorte der Zentren für Deutschland- und Europastudien (ZDES).

An wen richtet sich das ZDES-Jahrbuch und was soll es bewirken? 
Mit dem Jahrbuch 2022 wollen wir Einblicke in die Arbeit der Zentren für Deutschland- und Europastudien geben. 17 Beiträge sind es, die überwiegend schon einmal an anderer Stelle veröffentlicht worden sind, beispielsweise in Fachjournalen oder zentreneigenen Publikationsreihen. Die Entscheidung, welcher Artikel im Jahrbuch erscheinen soll, lag beim jeweiligen ZDES. So ist ein reichhaltiger Querschnitt entstanden, zugedacht all jenen, für die Resultate und Perspektiven aus den Deutschland- und Europastudien relevant sein können. Etwa Forschenden aus den Zentren selbst wie auch aus anderen Bereichen sowie Vertreterinnen und Vertretern öffentlicher Stellen oder Leserinnen und Lesern, die sich für entsprechende Arbeitsergebnisse interessieren. Das Jahrbuch kann kostenlos auf der Website des DAAD heruntergeladen oder dort eingesehen werden. 

Sind die Beiträge nicht zu fachlich ausgelegt?
Ich denke, dass jede und jeder Interessierte etwas Spannendes im Jahrbuch finden kann. Persönlich hat mich zum Beispiel der Beitrag über die politische Instrumentalisierung des 150. Todestags Mozarts und des 40. Todestags Verdis durch die Nationalsozialisten und die italienischen Faschisten im Jahr 1941 angesprochen. Auch den Artikel über Fußball im geteilten Berlin der Nachkriegszeit habe ich begeistert gelesen. Weitere Themen sind Tendenzen und Entwicklungen der Gegenwart wie Antisemitismus in den sozialen Medien oder Integration in die deutsche Gesellschaft – beides sehr aktuell. Es gibt auch Artikel, die man als wissenschaftlich vertieft bezeichnen kann und die daher besonders Fachleute der jeweiligen Disziplin wertschätzen werden. 

Welche Forschungsgegenstände sind derzeit besonders beliebt bei den ZDES? 
Die Zentren befassen sich mit der gesamten Bandbreite der Human- und Gesellschaftswissenschaften. Häufig geht es um Themenstellungen in den Politik- und Geschichtswissenschaften, besonders zu Deutschland und seiner Rolle in Europa seit 1945. Das wird im Jahrbuch sehr anschaulich, wenn etwa Katharina Karcher vom Institute for German and European Studies (IGES) an der University of Birmingham über das britische Exil Rudi Dutschkes in den Jahren 1968–71 schreibt. Oder nehmen wir den Beitrag von Woojeong Jang und Abraham Newman vom BMW Center for German and European Studies (CGES) an der Georgetown University in Washington D.C.: Sie befassen sich mit der Europäischen Datenschutzgrundverordnung. Insbesondere behandeln sie die Frage, wie NGOs Beschwerden gegen Verstöße vorbringen und Einfluss auf die politische Implementierung der Verordnung nehmen können. 

Woran wird an den ZDES noch geforscht?
Hinzu kommen Philosophie, Germanistik und die deutsche Sprache. Beispiele dafür sind der Beitrag des Zentrums in Peking von Liaoyu Huang: „Vom Aufstieg der Kultur zur kulturellen Verführung der Deutschen. Eine Neubetrachtung der romantischen Kultur in Deutschland“, oder der Artikel aus Berkeley von Jeroen Dewulf über den österreichischen Schriftsteller Stefan Zweig. Vor dem Hintergrund rassischer Ausgrenzung durch die Nazis in Europa glaubte Zweig in Brasilien ein gelungenes Beispiel für eine multiethnisch integrierte Bevölkerung zu erkennen. 

Durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine gibt es starke politische Spannungen zwischen Russland und Europa. Im Sammelband ist auch ein Beitrag des ZDES Sankt Petersburg enthalten. Inwiefern beeinflusst der Konflikt die Arbeit des Zentrums?
Aufgrund der völkerrechtswidrigen Invasion Russlands in der Ukraine hat der DAAD aktuell jede Unterstützung staatlicher Institutionen Russlands eingestellt. Dies betrifft auch das ZDES in Sankt Petersburg. Da das Zentrum eng mit der Universität Bielefeld kooperiert hat, wird dort versucht, die Arbeit soweit als möglich fortzuführen. Darüber hinaus unterstützen wir weiterhin Studierende sowie Forschende aus Russland mit individuellen Stipendien, etwa wenn sie an einer deutschen Hochschule studieren oder lehren wollen. Darunter sind auch Personen, die zuvor in St. Petersburg am ZDES studiert, geforscht und gelehrt haben.

Welche ZDES-Aktivitäten sind für das kommende Jahr geplant? Wird es ein zweites Jahrbuch geben?
Gerade bereiten wir die Konferenz der ZDES in Berlin vom 28. bis 31. März vor. Solche großen Konferenzen, an denen Vertreterinnen und Vertreter sämtlicher ZDES beteiligt sind, gibt es im zweijährigen Rhythmus. Wir erwarten rund 120 Teilnehmende aus aller Welt. Nach der Zeit, in der die persönlichen Kontakte coronabedingt stark eingeschränkt waren, wird es unter anderem darum gehen, den Vertreterinnen und Vertretern der Zentren wieder ein gemeinsames Podium und die Möglichkeit zum wissenschaftlichen Austausch im Netzwerk zu bieten. Wir werden sehen, wie die Resonanz auf das erste Jahrbuch ausfällt. Auch hier käme eventuell ein zweijähriger Rhythmus in Betracht. Dann würde das nächste ZDES-Jahrbuch Ende 2024 erscheinen. 

Interview: Johannes Kaufmann (17. Januar 2023)

Zur Person

Dr. Georg Krawietz ist Leiter des Referats „Projektförderung deutsche Sprache und Forschungsmobilität (PPP)“ im DAAD. Von 2014 bis 2019 leitete der promovierte Kunsthistoriker die DAAD-Außenstelle London. Zuvor war er in verschiedenen Bereichen des DAAD tätig, unter anderem als Verantwortlicher für die Initiative des Auswärtigen Amts „Schulen: Partner der Zukunft“ (PASCH).