27. Oktober 2022

“Fast jede vierte Person, die in Deutschland einen Auftenthaltstitel als Fachkraft bekommt, hat hier zuvor ein Studium absolviert”

Anteile der im Jahr 2019 erteilten Aufenthaltstitel zu Erwerbszwecken, denen jeweils ein Aufenthaltstitel zu Bildungszwecken vorausging, in % (Quelle: OECD, International Migration Outlook)

Wie attraktiv sind die OECD-Länder aus Sicht international mobiler Studierender? Welche Faktoren spielen hierbei eine Rolle? Und wie viele der ehemaligen internationalen Studierenden bleiben nach ihrem Abschluss zu Erwerbszwecken im jeweiligen Gastland? Diesen und weiteren Fragen widmet sich der diesjährige “International Migration Outlook” der OECD in einem thematischen Schwerpunkt. Über die wichtigsten Befunde dieser Analysen sprachen wir mit Dr. Thomas Liebig, dem leitenden Ökonom in der Abteilung Internationale Migration der OECD in Paris und Elisabeth Kamm, einer der Hauptautorinnen der Analysen zur Migration international Studierender im OECD-Migrationsausblick.

Ihre Analysen zeigen, dass für die Attraktivität der OECD-Länder aus Sicht internationaler Studierender unterschiedliche Faktoren eine Rolle. Welche Faktoren sind hier aus Ihrer Sicht für Deutschland besonders relevant?

Liebig: Die Kosten sind für viele international Studierende ein wichtiger Faktor, und hier ist Deutschland aufgrund der geringen Studienkosten und der häufig günstigen Lebenshaltungskosten a priori gut positioniert. Die Evidenz, ob höhere Studiengebühren mehr oder weniger anziehend wirken, ist allerdings nicht eindeutig. Studiengebühren scheinen nicht unbedingt die Attraktivität zu schwächen, sondern eher die Zusammensetzung der Studierenden zu beeinflussen, Stichwort sozio-ökonomische Herkunft. Hinzu kommt die Unterstützung durch Stipendien, aber auch die Möglichkeit der Teilzeitarbeit zur Finanzierung des Lebensunterhaltes.

Elisabeth Kamm ist eine der Hauptautorinnen der Sonderkapitel zur Migration international Studierender im OECD-Migrationsausblick 2022. (Bildquelle: privat)

Kamm: Ein weiterer wichtiger Faktor – vor allem für Studierende von außerhalb der EU, auf die sich unsere Studie konzentriert – betrifft die Möglichkeit, während des Studiums zumindest in Teilzeit zu arbeiten. Diese Möglichkeit besteht in den meisten OECD-Ländern. Mit maximal 120 Tagen oder 240 halben Tagen pro Jahr während der Vorlesungszeit liegt Deutschland im Mittelfeld. Die Möglichkeit, dass der Lebenspartner der Studierenden nicht nur eine Aufenthaltsgenehmigung, sondern auch einen automatischen und vollen Arbeitsmarktzugang erhält, ist ein weiteres Attraktivitätskriterium. Ein solcher automatischer Zugang besteht in Deutschland und in etwa einem Drittel der OECD-Länder. Fragen des Verbleibs nach dem Studium zum Zwecke der Arbeitssuche und -aufnahme sind natürlich ebenfalls relevant und werden von einigen Studierenden bereits bei der Auswahl des Gastlandes berücksichtigt.

Wie lange können Studierende nach ihrem Abschluss in den verschiedenen Ländern zur Arbeitssuche bleiben? Und wie hoch ist der Anteil derjenigen, die nach dem Studium in Deutschland bleiben, auch im Vergleich zu anderen Gastländern?

Kamm: In beinahe allen OECD-Ländern können international Studierende nach dem Abschluss zur Arbeitssuche im Land verbleiben. In den meisten OECD-Ländern zwischen neun und zwölf Monaten, teilweise ist dies auch von der vorangehenden Aufenthaltsdauer der dem Studienabschluss im Land abhängig. Mit einer Aufenthaltserlaubnis von 18 Monaten zur Arbeitssuche ist Deutschland attraktiv – und im Ländervergleich im oberen Viertel. Allerdings gewähren einige Länder, beispielsweise Australien, Südkorea, das Vereinigte Königreich und Finnland, sogar 24 Monate. Wenn internationale Studierende innerhalb dieser Frist einen Arbeitsplatz finden, der ihrer Qualifikation entspricht, können sie in Deutschland bleiben. In anderen Ländern kommen zum Teil noch weitere Voraussetzungen dazu.

Liebig: Rund die Hälfte der internationalen Studierenden aus Nicht-EU-Ländern bleibt nach dem Studium in Deutschland. Das ist im internationalen Vergleich ein hoher Wert, nur in Australien und Kanada bleibt ein noch höherer Anteil.

Anteile der internationalen Studierenden, die sich fünf bzw. zehn Jahre nach Studienbeginn noch im jeweiligen Gastland aufhalten, in % (Quelle: OECD, International Migration Outlook 2022)

Welche Rolle spielen internationale Absolventinnen und Absolventen aus Ihrer Sicht als potenzielle Fachkräfte für Deutschland? Und wie könnte deren erfolgreiche Arbeitsaufnahme gefördert werden?

Kamm: Fast jede vierte Person, die in Deutschland einen Auftenthaltstitel als Fachkraft bekommt, hat hier zuvor ein Studium absolviert. Internationale Studierende belegen zudem überdurchschnittlich häufig Fächer, für die aktuell und in den kommenden Jahren Fachkräfte gesucht werden. OECD-weit studiert etwa ein Drittel der internationalen Studierenden sogenannte MINT-Fächer, also Fächer im Bereich Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. In Deutschland sind es sogar über 50 Prozent. Im Wintersemester 2020/2021 kam beispielsweise jeder fünfte Studierende im ersten Fachsemester in Ingenieurswissenschaften an deutschen Hochschulen aus dem Ausland.

Dr. Thomas Liebig ist leitender Ökonom in der Abteilung Internationale Migration der OECD in Paris. (Bildquelle: privat)

Liebig: Wir wissen aus noch unveröffentlichten Daten zudem, dass es Personen, die für das Studium nach Deutschland gekommen sind und anschließend in Deutschland geblieben sind, wesentlich besser gelingt als klassischen Einwanderinnen und -einwanderern, die ihr Studium im Ausland gemacht haben, ihrem Qualifikationsniveau entsprechend zu arbeiten. Dies hat sicherlich mit der Vorliebe von Arbeitgebern für deutsche Abschlüsse zu tun. Außerdem ist diese Gruppe bereits „vorintegriert“, und konnte häufig bereits erste Kontakte mit Arbeitgebern knüpfen.

Deutschland ist derzeit das beliebteste nicht englischsprachige OECD-Land für internationale Studierende. Wenn es das Ziel ist, eine wachsende Zahl von Studierenden langfristig im deutschen Arbeitsmarkt und in die Gesellschaft zu integrieren, dann wäre es wünschenswert, deutsche Sprachkenntnisse unter internationalen Studierenden noch mehr zu fördern und auch zu fordern. Hierbei gibt es verschiedene Möglichkeiten, beispielsweise Deutschsprachkurse vor oder während des Studiums – gerade auch bei denjenigen, die in englischer Sprache studieren. Ebenso wäre eine Unterscheidung der Studiengebühren nach Unterrichtssprache, wie in einigen OECD-Ländern bereits üblich, denkbar.

Quelle: Eric Lichtenscheid

Autor: Dr. Jan Kercher, DAAD

Jan Kercher ist seit 2013 beim DAAD tätig und Projektleiter für die jährliche Publikation Wissenschaft weltoffen. Darüber hinaus ist er im DAAD für verschiedene andere Projekte zum Austausch zwischen Hochschulforschung und Hochschulpraxis sowie die Durchführung von Studien- und Datenerhebungsprojekten zur akademischen Mobilität und Internationalisierung der Hochschulen zuständig.

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