„Brasilien kennt und kann Krise“

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Dr. Jochen Hellmann, Leiter der DAAD-Außenstelle Rio de Janeiro und Direktor des Deutschen Wissenschafts- und Innovationshauses (DWIH) São Paulo. 

Im Dezember 2019 trat Dr. Jochen Hellmann die Stelle als DAAD-Außenstellenleiter in Rio de Janeiro an und erlebt seither eine durchaus turbulente Zeit in Brasilien. Doch nach der Coronakrise und den aktuellen Präsidentschaftswahlen gibt es für ihn viele Gründe, optimistisch nach vorne zu schauen.

Es fühlte sich an wie Nach-Hause-Kommen. Nach fast zehn Jahren als Generalsekretär an der Deutsch-Französischen Hochschule (DFH) in Saarbrücken und einem kurzen Intermezzo als Referent für internationale Wissenschaftsbeziehungen in Bonn beim DAAD hatten sich Dr. Jochen Hellmann und seine Frau 2019 für den Umzug nach Brasilien entschieden. Die neue Bezeichnung auf der Visitenkarte: Leiter der DAAD-Außenstelle Rio de Janeiro und Direktor des Deutschen Wissenschafts- und Innovationshauses (DWIH) São Paulo. Eine Position wie gemacht für den erfahrenen Hochschulmanager und promovierten Übersetzungswissenschaftler, der sich schon fast sein gesamtes Berufsleben für den internationalen akademischen Austausch engagiert. „Ich habe eine enge Beziehung zu Lateinamerika. Ich hatte Gelegenheit, nahezu jedes Land der Region kennenzulernen. Auch meine Frau stammt aus Peru“, berichtet Hellmann im Videotelefonat. Er spricht fließend Spanisch und Portugiesisch, kennt die Mentalität und die Besonderheiten des Kontinents bestens.

Trotzdem verlief der Start in die neue berufliche Herausforderung anders als geplant. Die Umzugskarton waren gerade ausgepackt, erste Termine mit Hochschulrektorinnen und -rektoren gemacht, als Nachrichten über eine mysteriöse Lungenkrankheit in China die Runde machten. Wenige Wochen später befand sich die Welt im Ausnahmezustand. „Unserer Arbeit beim DAAD hat die erste Phase der Coronapandemie sprichwörtlich den Stecker gezogen“, erinnert er sich. Videokonferenzen ersetzten eine Antrittsreise, auch Auslandsaufenthalte von Studierenden und Forschenden waren fast zwei Jahre lang nur schwer möglich. Nun war eine Neu(er)findung der eigenen Rolle gefragt. Alternative Formate mussten her, um den akademischen Austausch nicht vollends zum Erliegen zu bringen. Beratungsangebote wurden genauso digitalisiert wie akademische Konferenzen. „Wir haben in dieser Zeit viel in Sachen Digitalisierung dazugelernt. Manches davon wird uns langfristig helfen, zum Beispiel, wenn es um Angebote des DAAD in diesem flächenmäßig sehr großen Land geht“, sagt Hellmann.

„Brasilien kennt und kann Krise“

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Dr. Jochen Hellmann (Mitte) mit seinem Team im Hof der DAAD-Außenstelle Rio de Janeiro im Stadtteil Botafogo.

Krisenmanagement war gefragt
Natürlich war die globale Krise nicht nur in der Arbeit der Außenstelle zu spüren, sondern auch im Alltag. Der wegbrechende Tourismus traf Brasilien zusätzlich. „In der Nachbarschaft habe ich viele sehr traurige Geschichten von Menschen gehört, die durch die Pandemie in arge Bedrängnis geraten sind. Die Stimmung in dem Land war dadurch zeitweise stark getrübt“, berichtet Hellmann. Dazu kam das mangelnde Krisenmanagement unter Präsident Jair Bolsonaro. Dessen zeitweise Leugnung der Pandemie und das Zögern beim Start einer großangelegten Impfkampagne kostete nicht nur viele Menschenleben, sondern verspielte auch internationales Vertrauen. Zum Glück habe das engagierte Handeln einiger Gouverneure in den Bundesstaaten Schlimmeres verhindern können, so Hellmann. „Brasilien kennt und kann Krise. Gerade im Umgang mit großen Krankheitsausbrüchen und Impfkampagnen hat man durchaus Erfahrung“, sagt er und verweist auf eine letztendlich hohe Impfquote.

Doch die Situation sei heute deutlich schwieriger als die vor einem Jahrzehnt. Gerade in den Nullerjahren gab es in Brasilien ein starkes Wirtschaftswachstum, die Rohstoffe des Landes waren gefragt. Das hatte auch Auswirkungen auf die Hochschulen und den internationalen Austausch. Die damalige Regierung unter dem alten und künftigen Präsidenten Luiz Inácio „Lula“ da Silva investierte viel Geld in das Bildungssystem. Die Hochschulen des Landes wurden zu wichtigen Partnern für internationale Forschungskooperationen – in einem Land, das für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hoch attraktiv ist. Hier werden wichtige Forschungsfragen verhandelt: Erhalt der Biodiversität im Amazonasgebiet, erneuerbare Energien, Herausforderungen im Wachstum von Millionenstädten oder Gesundheits- und Seuchenprävention in Schwellenländern. Gleichzeitig haben viele Hochschulen in Brasilien ein hohes wissenschaftliches Niveau und sind daher ideale Partner für gemeinsame Projekte. „An der Relevanz der Zukunftsfragen und der hohen Qualifikation vieler brasilianischer Forschender hat sich nichts geändert. Allerdings hinterließen die globale Krise und tiefgreifende Kürzungen der Bolsonaro-Regierung tiefe Spuren im Hochschulsystem“, sagt Hellmann. So könnten die Universitäten mit gekürzten Budgets längst nicht mehr so aktiv als Partner in Forschungsprojekten auftreten wie zuvor. Viele Forschende seien ins Ausland gegangen, auch Deutschland war dabei ein beliebtes Ziel.

„Brasilien kennt und kann Krise“

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Der DAAD ist bereits seit 1972 mit einer Außenstelle in Rio de Janeiro vertreten.

Anfragen deutscher Hochschulen steigen wieder
Doch der Pessimismus hält sich beim Leiter der DAAD-Außenstelle in Grenzen. Im Videointerview spricht er lieber von der weiterhin großen Verlässlichkeit der Hochschulen und der Stabilität der Demokratie, die schon lange keine Kriege oder blutigen Konflikte mehr erlebt habe. Letzteres zeigte sich auch bei den aktuellen Wahlen zwischen Amtsinhaber Jair Bolsonaro und Ex-Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva. Im emotional geführten, teilweise sehr schmutzigen Wahlkampf wurden zwar die tiefen Gräben im Land deutlich. Die befürchteten Unruhen nach dem Wahlsieg des Herausforderers blieben trotzdem weitgehend aus. Ein überraschend besonnener Bolsonaro rief am Ende seine Anhängerinnen und Anhänger dazu auf, Straßenblockaden aufzugeben und das öffentliche Leben nicht weiter zu behindern. Bis zum Amtsantritt des neuen Präsidenten am 1. Januar 2023 werden sich die Gemüter endgültig beruhigt haben, vermutet Hellmann. Die Herausforderungen für die Zukunft seien dadurch aber nicht kleiner geworden. „Die Wirtschaft ist längst nicht so stark wie in Lulas ersten beiden Amtszeiten. Brasilien leidet unter der Inflation. Umfangreiche Investitionen in Bildung oder den Sozialstaat kann sich auch die neue Regierung nicht leisten“, sagt er. Natürlich gebe es aber einige Dinge zu korrigieren, wie zum Beispiel die überproportional hohen Kürzungen im Hochschulsektor oder die Abkehr vom Schutz der Regenwälder.

Deutlicher könnte sich dagegen die Außenwirkung des Landes ändern. Trotz der großen Bedeutung für Lateinamerika wurde Brasilien in den vergangenen Jahren weltweit von vielen Vertreterinnen und Vertretern der Regierungen und der Wirtschaft eher gemieden. Mit dem neuen Präsidenten Lula könnten sich die internationalen Beziehungen wieder intensivieren, glaubt Hellmann. Auch in der DAAD-Außenstelle Rio spüre man davon schon erste Anzeichen. „In den vergangenen Tagen und Wochen haben die Anfragen deutscher Hochschulen wieder zugenommen. Oft werden wir gefragt, ob nach dem Regierungswechsel wieder Kooperationen möglich seien.“ Seine Antwort lautet: „Ja, natürlich.“ Möglich waren sie schließlich auch in der Vergangenheit. Die politische Stimmung im Land habe sich vielleicht geändert, auch die Budgets der Hochschulen, nicht aber ihre Verlässlichkeit als internationale Partner in Forschung und Lehre.

Birk Grüling (16. November 2022)

Kurz nachgefragt bei Dr. Jochen Hellmann

Mein Lieblingsort in Rio: Frühmorgens, vor der Arbeit, fahre ich mit dem Fahrrad zum Arpoador-Strand zwischen Copacabana und Ipanema. Dort tauche ich, wenn die Sonne aufgeht, in die Fluten. Das stärkt vorab für lange Bürotage!

Meine Lieblingsspeise: Was das Kulinarische betrifft, gestehe ich meine Schwäche für Picanha mit „arroz e feijão“, also das sehr brasilianische, kunstfertig gegrillte Fleischgericht mit Reis und Bohnen.

Mein Lieblingsreiseort: Reiseziele gibt es in Brasilien unendlich viele, aber am häufigsten zieht es mich immer wieder nach Bahia und dessen Hauptstadt Salvador. Dort befindet sich, in diesem riesigen und kontrastreichen Land, das Epizentrum der afro-brasilianischen Kultur.