Europäischen Zusammenhalt stärken

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Bettina Stark-Watzinger, Bundesministerin für Bildung und Forschung, und DAAD-Präsident Prof. Dr. Joybrato Mukherjee im Gespräch über die Bedeutung von Erasmus+ für Europa, die Förderung der Europäischen Hochschulallianzen und die Entwicklung des Europäischen Hochschulraums.

Erasmus+ feiert in diesem Jahr seinen 35. Geburtstag. Frau Ministerin Stark-Watzinger, welche Bilanz ziehen Sie?

Stark-Watzinger: Das Programm hat sich zu einer Erfolgsgeschichte im besten Sinne entwickelt und steht wie kaum ein anderes für internationale Verständigung durch gemeinsames Lernen. Im wahrsten Sinne unermesslich ist der Wert für die europäische Idee, für die Verständigung und den Zusammenhalt junger Menschen in Europa. Wie wichtig das ist, sehen wir gerade an den Krisen, die Europa herausfordern. Nur wenn wir den europäischen Zusammenhalt stärken, werden wir unseren freiheitlichen Lebensstil beibehalten können. Bildung ist hierfür der Schlüssel. Die europäischen Bildungsprogramme haben nicht nur für den Lebensweg vieler Studierender entscheidende Weichen gestellt und die Internationalisierung der Hochschulen vorangetrieben. Sie haben auch regelmäßig Türen geöffnet für die weiteren 16 EU-Staaten, die so schon lange vor ihrem tatsächlichen Beitritt Teil der europäischen Bildungsfamilie werden konnten.

Europäischen Zusammenhalt stärken

Bundesregierung/Guido Bergmann


Bundesministerin für Bildung und Forschung Bettina Stark-Watzinger.

Herr Professor Mukherjee, von Beginn an begleitet der DAAD das Programm als Nationale Agentur für den Hochschulbereich. Welche Bedeutung hat Erasmus+ heute für die Hochschulen in Europa?

Mukherjee: Bisher hat das Erasmus-Programm mehr als zehn Millionen junge Menschen aller Bildungssektoren mobilisiert. Für die Hochschulen ist Erasmus+ heute aber weit mehr als ein Mobilitätsprogramm für Studierende. Als Innovationstreiber setzt sich die Entwicklung des Programms zu einem zentralen strategischen Baukasten zur Internationalisierung der Hochschulen fort. Das Portfolio adressiert dabei alle Kernbereiche einer modernen und international ausgerichteten Hochschule: Studium und Lehre, Forschung und Wissenstransfer, Personalentwicklung und strategische Vernetzung in Wissenschaft und Gesellschaft. Darüber hinaus enden die Möglichkeiten, die das Programm bietet, schon lange nicht mehr an den Grenzen Europas: Es ist ein weltweites Kooperationsprogramm geworden.

Die gesellschaftlichen Herausforderungen, mit denen sich Europa schon seit einigen Jahren konfrontiert sieht, sind nicht erst seit dem Krieg gegen die Ukraine enorm. Wie schätzen Sie beide vor diesem Hintergrund die gesellschaftliche Bedeutung von Erasmus+ für die Zukunft Europas ein?

Stark-Watzinger: Wir müssen Europa wieder mehr mit dem Herzen leben. Der lebendige Austausch zwischen jungen Menschen ist hierfür die Grundlage. Wir wollen die europäische Identität und die aktive Beteiligung jedes Einzelnen an demokratischen Prozessen weiter ausbauen. Sie sind zentral für die Zukunft der Europäischen Union. Das Programm Erasmus+ trägt konkret dazu bei, das Interesse der Menschen für die Europäische Union zu steigern und ihr Wissen darüber zu erweitern. Denn auch das ist wichtig: Nur wer versteht, wie Europa funktioniert, kann verstehen, welchen Wert es für uns hat.

Mukherjee: Der europäische Zusammenhalt, die europäische Identität und der europäische Austausch sind heute wichtiger denn je. Seit über 30 Jahren unterstützen uns zudem, mit Finanzierung durch das BMBF, die ehrenamtlichen Lokalen Erasmus+ Initiativen (LEI) dabei, dieser Überzeugung gerecht zu werden und sie zu verbreiten. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Verkörperung europäischer Werte in unserer Gesellschaft und bringen Erasmus+ und die europäische Idee den Bürgerinnen und Bürgern näher. Erasmus-Projekte konzentrieren sich auf verschiedenste Aspekte der Teilhabe am demokratischen Leben wie aktive Beteiligung, Dialog und Integration – dabei geht es auch um explizit politische Themen wie Wahlen, soziale Gerechtigkeit und Demokratie.

Die Europäischen Hochschulen, die auf EU-Ebene im Rahmen von Erasmus+ gefördert werden, sind explizit im Koalitionsvertrag verankert. Welche Bedeutung kommt diesen Allianzen im Bereich der europäischen Hochschulkooperation zu?

Stark-Watzinger: Die „Europäischen Hochschulen“ stehen für neue Wege der Zusammenarbeit und mehr Vernetzung, die wir so dringend brauchen. Sie entwickeln gemeinsame Strategien für eine nachhaltige Kooperation in den Bereichen Forschung, Bildung und Innovation. Hier sind die Allianzen ein Experimentierfeld für die Erkundung neuer Wege und die Entwicklung innovativer Formate. Sie nehmen dabei eine Vorreiterrolle ein, etwa im Bereich Lehre und Weiterbildung durch schnelle, agile, bedarfsorientierte Bildungsangebote in Form von Microcredentials. Auch mit Blick auf den Abbau administrativer Hürden, zum Beispiel bei der Anerkennung von Studienleistungen, kommt den Europäischen Hochschulallianzen eine zentrale Rolle zu. Die hier angestoßenen Entwicklungen und Initiativen sollen perspektivisch auf die gesamte europäische Hochschullandschaft ausstrahlen. Auch im Rahmen der von der Europäischen Kommission Anfang des Jahres veröffentlichten „Europäischen Strategie für Hochschulen“ haben die Allianzen einen hohen Stellenwert. Das BMBF unterstützt im Schulterschluss mit den Ländern die Umsetzung und Weiterentwicklung des Europäischen Bildungsraums.

Die Europäischen Hochschulallianzen sowie die Maßnahmen im Rahmen des nationalen Begleitprogramms nehmen eine Vorreiterrolle nicht nur im Europäischen Hochschulraum ein, sondern auch weltweit. Wie schätzen Sie deren Erfolge ein?

Mukherjee: Im nationalen Begleitprogramm zur EU-Initiative, das vom BMBF finanziert und vom DAAD umgesetzt wird, liegt ein Schwerpunkt darauf, einen Einblick in die Arbeit der Allianzen zu geben, ihre Sichtbarkeit zu erhöhen und so Ansätze, neue Entwicklungen sowie Impulse in die Hochschullandschaft zu kommunizieren. Ein Beispiel dafür ist der Podcast „Campus Europa“. Einen weiteren Schwerpunkt bildet der vom DAAD moderierte Politikdialog zwischen Bund, Ländern und den Hochschulallianzen zur Überwindung regulatorischer Hemmnisse und Hürden in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und Mobilität. Die finanziellen Mittel aus dem nationalen Begleitprogramm sind für die teilnehmenden deutschen Hochschulen, aber auch für deren Partnerhochschulen, von immenser Bedeutung, da die Europäischen Hochschulen, gemessen an ihren Aufgaben und Ambitionen, unterfinanziert sind.

Doppelinterview Mukherjee und Karliczek Europäische Hochschulen

Jonas Ratermann/DAAD


DAAD-Präsident Prof. Dr. Joybrato Mukherjee.

Frau Ministerin, wie bewerten Sie die bisherige Entwicklung des Europäischen Hochschulraums (EHR), und welche Themen werden in Zukunft eine Rolle spielen?

Stark-Watzinger: Der Aufbau des Europäischen Hochschulraums, kurz EHR, war unermesslich wichtig, um Europas Hochschullandschaft wettbewerbsfähig zu halten. Der sogenannte Bologna-Prozess wird in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem mit der Umstellung auf die Bachelor- und Masterstudiengänge und der damit verbundenen Einführung des ECTS-Punktesystems verbunden. Das wurde damals kontrovers diskutiert, war aber die richtige Entscheidung. Was oft übersehen wird: Das ist nur eines der Kernelemente der Bologna-Reform. Ganz wesentlich sind auch die gemeinsamen Vereinbarungen zur Anerkennung von Studienleistungen und der Qualitätssicherung an den Hochschulen. Sie bilden die Grundlage dafür, dass sich Studierende heute im EHR so frei bewegen können wie nie zuvor. Insofern bleibt der Austausch dazu und die weitere Umsetzung der Vereinbarungen in allen Ländern des EHR weiterhin wichtig. Zudem gibt es weitere Themen, zu denen wir uns mit den anderen EHR-Mitgliedsstaaten austauschen: die Festlegung der Ziele, wie viele Studierende Auslandserfahrungen sammeln sollen, und die Internationalisierung der Hochschulen oder die soziale Dimension im Sinne einer größeren Teilhabe bislang unterrepräsentierter Gruppen an der Hochschulbildung. Auch in diesen Bereichen haben wir in den letzten Jahren viel erreicht. Derzeit spielen aktuelle Fragestellungen zu Digitalisierung und Nachhaltigkeit sowie Grundwerten wie der akademischen Freiheit eine wichtige Rolle.

Herr Mukherjee, wie unterstützt der DAAD die gemeinsamen Ziele des Bologna-Prozesses konkret?

Mukherjee: Als DAAD leisten wir in der Bologna-Gremienarbeit gern unseren Beitrag – sowohl auf europäischer Ebene in verschiedenen Arbeitsgruppen der BFUG als auch im nationalen Rahmen in der Arbeitsgruppe „Fortführung des Bologna-Prozesses“. Einerseits können wir so unsere Internationalisierungsexpertise einbringen, andererseits profitieren wir selbst von dem Austausch mit anderen nationalen und internationalen Partnern. Dem BMBF sind wir dankbar für die Unterstützung weiterer Maßnahmen, die wir im Projekt Bologna Hub der Nationalen Agentur für Erasmus+ Hochschulzusammenarbeit umsetzen können. Das Projekt zielt darauf ab, deutsche Hochschulen bei der Nutzung der zentralen Instrumente der Bologna-Reform zu unterstützen und Diskussionen zu aktuellen Bologna-Themen voranzutreiben.

Der Bologna Hub bietet also insbesondere eine Plattform für den politischen Dialog zu den großen Leitlinien und Themen, die im EHR diskutiert werden. Wie sieht die Unterstützung an den Hochschulen genau aus?

Stark-Watzinger: Deutschland hat die Bologna-Reformen, insbesondere die oben genannten Kernreformen, erfolgreich eingeführt und möchte auch einen substanziellen Beitrag bei der Unterstützung seiner Partner leisten. Denn der Bologna-Prozess kommt der Hochschulgemeinschaft und den Studierenden nur dann zugute, wenn er im EHR flächendeckend und vollständig umgesetzt wird. Hier spielen die Hochschulen eine wesentliche Rolle. Die europäischen Unterstützungsmaßnahmen für die Hochschulen, die in Deutschland stets vom BMBF kofinanziert wurden, haben sich als äußerst wertvoll erwiesen. Es ist ein Geben und Nehmen: Einerseits möchten wir unsere Erfahrungen mit anderen Ländern teilen, andererseits auch selbst von positiven Beispielen lernen.

Mukherjee: Genau dies geschieht beispielsweise im Projekt Bologna Hub Peer Support, das der DAAD koordiniert: Ein europäisches Team von Bologna-Expertinnen und -Experten bietet Hochschulen des gesamten EHR inklusive Deutschlands maßgeschneiderte Beratungen zur Implementierung der Bologna-Reformen an. Neben der europäischen Ausrichtung ist uns auch der Fokus auf sogenannte „Peer Support“-Maßnahmen wichtig. Die Expertinnen und Experten begegnen den Hochschulen auf Augenhöhe. Eine solidarische Zusammenarbeit, insbesondere auch mit Hochschulen in Ländern, die dem EHR im Laufe der Zeit beigetreten sind, wird somit maßgeblich gestärkt. Aufgrund der hohen Nachfrage seitens der Hochschulen wird ab September 2022 das Folgeprojekt Bologna Hub Peer Support II umgesetzt.

(9. Mai 2022)