„Mein Film erzählt von den unsichtbaren Grenzen der Stadt“

Privat

Die Wissenschaftlerin und Filmemacherin Dr. Paola Piscitelli wurde vom DAAD mit dem Förderprogramm PRIME gefördert.

Dr. Paola Piscitelli, Dozentin am Fachbereich Erdsystemwissenschaften der Universität Hamburg, hat sich mit der Situation marginalisierter Jugendlicher in Neapel und Johannesburg auseinandergesetzt. Ein Ergebnis ihrer Arbeit ist ein Film, den sie in Zusammenarbeit mit jungen Menschen in Neapel produziert hat. Unterstützt wurde sie bei ihrem Projekt durch das DAAD-Förderprogramm Postdoctoral Researchers International Mobility Experience (PRIME). DAAD Aktuell hat mit der Wissenschaftlerin über ihre Dokumentation gesprochen.

Frau Dr. Piscitelli, worum geht es in Ihrem Film „Io non vedo il mare“?
Ich erzähle darin die Geschichte marginalisierter junger Menschen in Neapel, die während der Coronapandemie zum ersten Mal zusammenkamen, um einen Brief an die Stadt Neapel zu schreiben. Das Ergebnis ist ein Mosaik aus kleinen, fantasievollen, respektlosen, autobiografischen Erzählungen nah am Paradoxen, das eine mögliche andere Geschichte projiziert, die wir als Zuschauerinnen und Zuschauer neu schreiben können. Der italienische Titel heißt auf Deutsch „Ich sehe das Meer nicht“. Dieser Satz stammt von einem Projektteilnehmer, der zu denjenigen Jugendlichen gehört, die aufgrund von Sprach- und Beziehungsschwierigkeiten am schweigsamsten sind, aber immer genau den Nerv treffen, wenn sie sich äußern. Denn ich glaube, dass dieser Satz genau das zum Ausdruck bringt, was in Neapel passiert: In der Hauptstadt des Mittelmeers markiert das Meer – verstanden als Offenheit, Freiheit und Emanzipation – die wahre Grenze zwischen denen, die all das erreichen, und denen, die es nicht schaffen und gezwungen sind zu gehen oder sich abmühen, um zu bleiben. Mit meinem Film wollte ich von diesen unsichtbaren Grenzen innerhalb der Stadt erzählen.

Wie ist die Idee entstanden, einen Film über die Situation marginalisierter junger Menschen in Neapel zu machen?
Der Film wurde zwar vollständig in Neapel gedreht, hat seinen Ursprung aber in Johannesburg, Südfrika, wo er zuerst spielen sollte. Dann zwang mich die Pandemie, Drehplan und Drehort zu ändern. Eigentlich ein glücklicher Zufall, denn dadurch wurde mir klar, dass es eine Verbindung zwischen Johannesburg, dem Untersuchungsgebiet meiner Doktorarbeit, und Neapel gibt, die ich in meinen früheren Studien noch nicht erkannt hatte. Beides sind Metropolen des sogenannten Globalen Südens, die nicht nur die Kolonisierung erlebt haben, sondern in jüngster Zeit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Neapel liegt im Zentrum einer Region, die von beunruhigenden Ereignissen in den späten 2010er Jahren geprägt ist, wie dem Massaker von Castel Volturno im Jahr 2008, der Gewalt gegen Afrikaner in Pianura im Jahr 2009 oder der Jagd auf Roma in Ponticelli im Jahr 2011 – alles Anzeichen einer Fremdenfeindlichkeit, die Hand in Hand geht mit der Entwicklung der Stadt zu einem Siedlungsgebiet für Migrantinnen und Migranten. Mir war es wichtig, auch diese Geschichten zu erzählen – oder besser gesagt –, sie von den jungen Menschen erzählen zu lassen, die Rassismus und Gewalt selbst erlebt haben. Gleichzeitig sollte eine Darstellung entstehen, die sich von der Definition der Marginalität befreit, indem sie zeigt, wie sehr diese Jugendlichen jenseits der Rhetorik die Zukunft repräsentieren – aufgrund des Reichtums ihrer Erfahrungen, der Tiefe ihrer Gedanken, ihrer Energie.

Video: „Io non vedo il mare“

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Was ist die Botschaft Ihres Films?
Die Botschaften, die direkt von den Figuren vermittelt werden, habe ich gesammelt und zusammengestellt. Eigentlich sind es keine Botschaften, sondern authentische Fragen, die von der Politik nicht gestellt werden: Was ist Familie und wie hat sie sich verändert? Was bedeutet Sicherheit wirklich? Aber auch: Warum sind Menschen Rassisten und gehen dann in die Sonne, um ihre Haut zu bräunen? Das alles sind Fragen, die insgesamt ein Manifest ergeben könnten. Ich habe versucht, sie wie einen Chor erklingen zu lassen, der dem Publikum Fragen stellt und hoffentlich emotionale Reaktionen auslöst, sei es durch Empörung, Mitgefühl oder Zärtlichkeit. Wenn ich wirklich eine einzige Botschaft ausmachen müsste, dann würde ich sagen, dass sie in der Praxis dessen liegt, was wir versucht haben: Diesen Film gemeinsam zu machen, auf so eine verrückte Art und Weise, zu der am wenigsten geeigneten Zeit, und dadurch Begegnung zu ermöglichen, gerade als es unmöglich schien.

Wie sind Sie vorgegangen?
Der Film ist das Ergebnis meiner Arbeit an der Schnittstelle von Stadtforschung, sozialer Kunst und Filmemachen. Meine Forschungsfragen lauteten: Was sind die (sichtbaren und unsichtbaren) Grenzen von Neapel? Welche Stadt definieren oder verleugnen sie? Und auf welche Weise versuchen neue Generationen, ihr Recht auf die Stadt neu zu verhandeln? Von Anfang an war mir klar, dass ich die Sichtweise der Jugendlichen einnehmen wollte, um ihre Perspektive auf diese sichtbaren und unsichtbaren städtischen Grenzen innerhalb der Städte zu schildern, die aus Diskriminierung, Rassismus, stiller Gewalt, sozialen Barrieren und mangelnden Chancen bestehen. Ich las alles, was in den vergangenen zehn Jahren über Migrantengemeinschaften und neue Generationen veröffentlicht wurde. Das übertrug ich in ein Dossier und versuchte, dafür eine visuelle Sprache zu entwickeln. Ich entwickelte ein Workshop-Konzept, mit dem ich performativ herausstellen wollte, was in der wissenschaftlichen Literatur bereits entdeckt worden war, indem ich mit den jungen Leuten sprach und spielte. Dann begann ich, Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu suchen; parallel dazu stellte ich ein Team zusammen. 

Mit wem und wie haben Sie im Team zusammengearbeitet? 
Das Team bestand aus 23 jungen Teilnehmenden im Alter von 16 bis 24 Jahren, einem Pädagogen, der in einer bedeutenden neapolitanischen Nichtregierungsorganisation für das Thema der sozio-psychologischen Gefährdung von Migrantenjugendlichen zuständig ist, zwei Experten für libertäre Pädagogik und Gründern eines Vereins, der mit Roma im Stadtteil Scampia arbeitet. Dazu kamen ein Videospezialist und ein Tontechniker, die von Fotografen- und Schriftstellerkollegen begleitet wurden. Wir begannen, uns auf jede erdenkliche Weise zu treffen, zuerst online und dann persönlich, auf Einladung des Museo MADRE, einem sehr wichtigen neapolitanischen Museum für zeitgenössische Kunst. Die Unterstützung des Museums und insbesondere der damaligen Direktorin Laura Valente, die von Anfang an fest an dieses Projekt geglaubt und sich dafür eingesetzt hat, war für das Zustandekommen des Ganzen unerlässlich. Von Dezember 2020 bis März 2021 trafen wir uns alle fast jede Woche für Aktivitäten wie kollektives und emotionales Mapping, Theaterspiele, Autoerzählungen und Filmemachen. Während der Phase des automatischen Erzählens schrieben die jungen Teilnehmenden Tagebücher, die als Grundlage für die Mikrogeschichten des Films dienten, die sie dann unabhängig voneinander mit einer für die Gruppe gekauften Handykamera aufnahmen. Der gesamte Film war eine große Gruppenarbeit. 

Wie hat das PRIME-Stipendium Sie dabei unterstützt? 
Die Förderung des DAAD war für das Projekt unverzichtbar. Das Stipendium hat es mir ermöglicht, mich ganz auf diese Arbeit zu konzentrieren. Die Tatsache, dass ich von einer so angesehenen ausländischen Institution unterstützt wurde, half ebenfalls ungemein bei der Vorstellung in Neapel und erleichterte den Aufbau des Netzwerks. Darüber hinaus waren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im DAAD sehr flexibel, wenn es um die Anpassung der Förderung ging, weil sich während des Projekts ständig Änderungen ergaben. Und das war entscheidend für den Erfolg.

Interview: Britta Hecker/Sabine Moser (16. Februar 2023)

Zur Person

Dr. Paola Piscitelli bezeichnet sich selbst als Forscherin, Ethnografin und Reisende. Ihren Doktortitel erwarb sie im Bereich Stadtplanung nach ausgedehnten Feldforschungsaufenthalten in Afrika, südlich der Sahara. Während der Promotion begann sie auch, andere künstlerische Methoden und Sprachen für die wissenschaftliche Forschung zu erkunden. Ihr Ziel ist, eine Schnittstelle zwischen der Stadtforschung und dem Dokumentarfilm zu schaffen sowie experimentelle Filme über Fragen des menschlichen Zusammenlebens in städtischen Gebieten zu drehen.

Weitere Informationen

Der DAAD unterstützt mit dem Förderprogramm PRIME seit 2014 die internationale Mobilität von Postdocs durch befristete Stellen an deutschen Hochschulen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ihre weitere berufliche Laufbahn in Deutschland sehen, erhalten mit einer Anstellung für 18 Monate auch eine 12-monatige Förderung für einen Forschungsaufenthalt im Ausland. Bewerbende müssen überdurchschnittlich qualifiziert sein; die Erfolgsrate der Bewerbungen liegt unter 20 Prozent. Bewerbungen sind unabhängig von Fachbereich, Nationalität und aktuellem Aufenthaltsort möglich.